1. Veraltete Beurteilungskriterien und deren Problemstellung

Die aktuell in Deutschland gültigen Richtlinien für die Durchführung der Medizinisch-Psychologischen Untersuchung (MPU) bei Cannabiskonsum basieren auf der 4. Auflage der Beurteilungskriterien der Deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin (DGVM) und der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP), die im November 2022 veröffentlicht wurden.

Diese Richtlinien sind mittlerweile überholt und berücksichtigen nicht die tiefgreifenden Änderungen der Cannabis-Gesetzgebung zum 01.04.2024 durch das Konsumcannabisgesetz (KCanG) sowie die gesetzgeberischen Anpassungen im Straßenverkehrsrecht mit dem Sechsten Gesetz zur Änderung des StVG und weiterer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 16.08.2024 (BGBl I 2024, Nr. 266, in Kraft seit 22.08.2024).

Ohne eine rasche Anpassung der MPU-Richtlinien besteht die Gefahr, dass Fahrerlaubnisbehörden und Gerichte weiterhin auf überholte Maßstäbe zurückgreifen und Betroffene unzulässig benachteiligt werden.

Hauptprobleme der bestehenden Richtlinien:

  1. Bisher ignorierte Gesetzesreform 2024: Die Gesetzesbegründung zu § 44 KCanG und die Anpassungen der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) werden nicht reflektiert.
  2. Unklare Definition von Cannabismissbrauch: Trotz Neuregelung wird weiterhin auf veraltete Begriffe wie „regelmäßiger Konsum“ abgestellt.
  3. Unwissenschaftliche Grenzwerte: Die 1-ng/ml-Grenze aus alten Beurteilungskriterien wird nicht an die neue Rechtslage angepasst, die künftig eine individuelle Gefährdungsbeurteilung vorsieht.
  4. Unveränderte Abstinenzanforderungen: Die bisherigen rigiden Abstinenzanforderungen berücksichtigen nicht die Neuregelung, die den Konsum unter bestimmten Bedingungen erlaubt.
  5. Fehlende Anpassung an wissenschaftliche Erkenntnisse: Neue Studien zur Trennfähigkeit, zu THC-Wirkungen und zur Verkehrssicherheit bleiben unberücksichtigt.

Eine umfassende Überarbeitung der MPU-Richtlinien für Ärzte und Psychiater ist daher dringend erforderlich, um eine sachgerechte, wissenschaftlich fundierte und gesetzeskonforme Beurteilung der Fahreignung sicherzustellen.

2. Veraltete Beurteilung der Fahreignung nach alter Rechtslage

A. Fahrerlaubnisrechtliche Bewertung des Cannabiskonsums (alte Rechtslage)

Unter der früheren Rechtslage wurde der Cannabiskonsum nur unter bestimmten Bedingungen als fahrerlaubnisrelevant eingestuft:

  • Abhängigkeit führte zur grundsätzlichen Ungeeignetheit.
  • Regelmäßiger Konsum wurde ohne weitere Differenzierung als problematisch betrachtet.
  • Gelegentlicher Konsum (mindestens zweimal) war nur bei zusätzlichen Faktoren (z. B. Fahren unter THC) relevant.
  • Nachweis des Konsums war erforderlich, bloße Vermutungen reichten nicht aus.
  • Trennvermögen wurde verneint, wenn eine Fahrt mit 1 ng/ml THC im Blut vorlag (BVerwG NJW 2019, 3395).
  • Mischkonsum (0,3‰ Alkohol + 1 ng/ml THC) galt als Ausschlusskriterium für die Fahreignung (BVerwG NJW 2014, 1318).
  • Einmaliger Probierkonsum ohne Verkehrsteilnahme war irrelevant (BVerfG NJW 2002, 2378).
  • VGH München (NJW 2022, 712) ging davon aus, dass gelegentlicher Konsum der Regelfall sei.

B. Bestimmung des Konsummusters nach THC-COOH-Werten

Die Fahreignung wurde u. a. anhand von THC-COOH-Werten eingeschätzt. Die sogenannte Daldrup-Tabelle wurde zur Beurteilung herangezogen.

  • Einmaliger Konsum: Bis 5 ng/ml THC-COOH.
  • Gelegentlicher Konsum: 5 bis 75 ng/ml THC-COOH.
  • Regelmäßiger Konsum: Über 75 ng/ml THC-COOH.

Diese Einteilung erfolgte auf Basis einer wissenschaftlich veralteten Methodik, die keine präzise Aussage über die Verkehrssicherheit ermöglichte.

C. Ärztliche Untersuchungen zur Fahreignung

Ein ärztliches Gutachten wurde angeordnet zur Klärung, ob:

  • Eine Abhängigkeit von Cannabis vorliegt.
  • Ein problematischer Konsum besteht.
  • Der Besitz von Cannabis auf regelmäßigen Konsum hindeutet.

Diese Einschätzung erfolgte jedoch auf Grundlage veralteter Kriterien, die keine individuellen Fahrfähigkeitsanalysen berücksichtigten.

3. Veraltete MPU-Regelungen und problematische Praxis

A. MPU nach Ermessen der Behörde

  • Eine MPU konnte bei gelegentlichem Konsum angeordnet werden, wenn Zusatztatsachen die Fahreignung in Frage stellten.
  • BVerwG (NJW 2019, 3395): Erstmaliger Verstoß führte nicht automatisch zur Ungeeignetheit.
  • Das Fahrerlaubnisrecht sollte Gefahrenabwehr dienen, nicht der Sanktionierung.

B. Verpflichtende MPU nach Entziehung der Fahrerlaubnis

Eine MPU war zwingend erforderlich bei:

  • Früherer Entziehung der Fahrerlaubnis.
  • Wiederholten Verstößen gegen § 24a StVG (Drogen im Straßenverkehr).

Diese strengen Regelungen wurden jedoch mit der Neufassung von § 13a FeV und der Anpassung des KCanG überholt.

4. Veraltete Beurteilungskriterien und Abstinenzanforderungen

A. Einteilung der Konsummuster nach alten Beurteilungskriterien

  1. D1: Drogenabhängigkeit → 1 Jahr Abstinenz, Entgiftung erforderlich.
  2. D2: Hochproblematischer Konsum → 1 Jahr Abstinenz.
  3. D3: Drogengefährdung (gewohnheitsmäßiger Konsum) → 3 – 6 Monate Abstinenz.
  4. D4: Gelegentlicher Konsum mit Trennvermögen → kein generelles Abstinenzerfordernis.

B. Abstinenznachweis nach veralteten Regeln

  • 6 Monate Abstinenz: 4 Urinproben oder 6 cm Haaranalyse.
  • 12 Monate Abstinenz: 6 Urinproben oder 12 cm Haaranalyse.

Diese strengen Nachweisvorgaben berücksichtigen nicht die Legalisierung von Cannabis und die Anpassung der Grenzwerte im Straßenverkehrsrecht.

5. Fazit: Dringende Notwendigkeit einer Überarbeitung

Die aktuellen Beurteilungskriterien für Ärzte und Psychiater zur MPU bei Cannabis aus dem Jahr 2022 sind veraltet und entsprechen nicht der aktuellen gesetzlichen und wissenschaftlichen Realität.

Die Gesetzesreformen zum KCanG und FeV in 2024 haben die Voraussetzungen für die MPU grundlegend verändert.

  •  Die alten Trennungs- und Konsummuster-Kriterien sind überholt.
  •  Die Abstinenzanforderungen müssen an die neue Rechtslage angepasst werden.
  •  Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Beeinträchtigung durch Cannabis sind mittlerweile differenzierter.

Die Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin (DGVM) und die Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP) müssen dringend neue Beurteilungskriterien entwickeln, die:

  1. Die neue Gesetzeslage berücksichtigen.
  2. Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse über Cannabiswirkungen einbeziehen.
  3. Eine realistische, zeitgemäße, Bewertung der Fahreignung ermöglichen.